"Geschichten aus Wethen"


"Karl Ashauer und seine Schwester Adele Schürhoff erzählen", aufgezeichnet von Ursula Wolkers, veröffentlicht in "Mein Waldeck", Beilage der Waldeckischen Landeszeitung für Heimatfreunde, Nr. 12, 1986. Nachdruck nur mit Genehmigung der Waldeckischen Landeszeitung.

Beruf des Vaters   Das Wethener Platt   Der Gänsehirt    Sarah, die Gans   Der Schweinehirt   Die Obsternte  1. April 1945  Die Jugend von früher

"Unser zweiter Besuch in Wethen gilt dem 71jährigen Karl Ashauer und seiner 77jährigen Schwester Adele Schürhoff, die jetzt in Wrexen wohnt. Auch sie erzählen anschaulich und mit großer Lebhaftigkeit von ihrer Jugendzeit in ihrem Heimatdorf. Sie sind jünger als Heinrich Heine und Heinrich Drolshagen. So wird das Bild von Wethen ergänzt, wenn auch noch manche weißen Flecken bleiben mögen.

Beruf des Vaters: Musiker und Landwirt
Der Vater der beiden Geschwister war der Musiker und Landwirt Christian Friedrich Ashauer (1877-1950). Musiker, das war früher in unserem Lande und noch dazu auf einem Dorf ein recht seltener Beruf. Aber Wethen scheint da eine Ausnahme zu bilden. Hier war die Begeisterung für Musik größer als in anderen Orten. Schon auf dem Bild vom 25jährigen Bestehen des Kriegervereins aus dem Jahre 1904 liegen vor all den würdigen, ordensgeschmückten Herren in ihren Festtagsanzügen die Wethener Jungen, die in der von Lehrer Schleiermacher gegründeten Kapelle spielten.
Einen mächtigen Auftrieb für das Wethener Musikleben gab auch August Maaß mit seiner Kapelle, die im Waldecker Land und in Westfalen einen guten Ruf hatte. August Maaß stammte aus einer musikalischen Familie. Schon bei seinem Vater Karl Maaß und bei seinen älteren Brüdern Friedrich und Karl ist im Wethener Ortssippenbuch die Berufsbezeichnung Musikus eingetragen. In der Kapelle von August Maaß, zu der etwa zwölf Musiker gehörten, spielte Christian Ashauer Klarinette. Unterricht hatte er in Arolsen bei einem Militärmusiker; den Namen haben die Geschwister vergessen. Sie können sich jedoch daran erinnern, daß der Vater ihnen erzählte, er habe damals 2 1/2 Stunden zu Fuß nach Arolsen gehen müssen, durchs Stock, an Herbsen vorbei und schließlich durch den Tiergarten. Dann habe er mit seinem Lehrer zwei Stunden lang geübt und sei anschließend den weiten Weg zurückmarschiert.
Die Familie hat ein schönes Bild von Christian Friedrich Ashauer, das hier (in der oben genannten Ausgabe von "Mein Waldeck", der Tipper) wiedergegeben ist. Er steht gerade in seiner Tür "im Reiserock", sagt Adele Schürhoff. "Den trug er immer, wenn er mit der Kapelle loszog."
Beim Vater hatte Karl Ashauer seinen ersten Musikunterricht. Später, auf dem Gymnasium in Warburg, hatte er einen Lehrer, der ihm theoretischen Musikunterricht gab. Er spielte in der Gymnasialkapelle mit, die er sogar ein Jahr lang leitete, und außerdem im Sinfonieorchester der Schule. Die Musik ist zeit seines Lebens sein Steckenpferd und seine Hilfe in schweren Zeiten geblieben. Noch heute leitet er die Jugendblaskapellen in Ossendorf und Löwen, unterrichtet Kinder auf verschiedenen Blasinstrumenten, erteilt Klavierunterricht und freut sich natürlich ganz besonders darüber, daß seine Enkelkinder zu tüchtigen Musikern heranwachsen. Unterricht haben sie natürlich beim Großvater in Wethen.

Das Wethener Platt
Die "Wethener Möhrenbälge" sprachen breit und gedehnt. "Reih-Weithen", riefen die Jungen aus den Nachbardörfern hinter ihnen her. "Rei" (fertig, schon) heißt in Rhoden "ree". "Eine, tweie, dreie, veire", zählt man in Wethen und in Rhoden "eene, twee, dree, veere". Das Rhoder Platt (siehe: Internetseite für Rhoder Platt) galt als eleganter als die breite Sprache der Wethener. Wenn ein Rhoder von seiner Kuh sprach, sagte er Teebeest (Zugkuh, Fahrkuh). Deshalb wurden die Rhoder von den Nachbarorten "Teebestere" genannt, um ihre Mundart zu charakterisieren. Sie selbst sagten "Teibeistere".
Die "preußischen" Nachbarn zogen die Wethener auch gerne wegen ihrer breiten Mundart auf. Wenn ein Junge aus Wethen durch Ossendorf ging, kam sofort ein Ossendorfer Junge herbeigelaufen, der an den Jungen aus "Rei-Weithen" die alte Frage stellte: "Hage me rei de Szigge wate gieht?" Die Antwort lautete: "En Ömmer voul Hoech un en Arm voul Supen." (Haben wir schon der Ziege was gegeben? - Einen Eimer voll Heu und einen Arm voll Wasser).

Der Gänsehirt
In Wethen gab es bis etwa 1930 Gänsehirten. Der letzte, der viele Jahre lang treu seines Amtes waltete, war der alte Vahle. Jeden Morgen zog er in aller Frühe los, um die Gänse im Dorf einzusammeln. Seine Frau half ihm dabei. Nach einem festgelegten Plan ging er mit einer Rassel, ähnlich der, die man bei Treibjagden benutzt, durch die Straßen. Seine Frau zog durch den anderen Teil des Dorfes und holte ebenfalls einen "Tropp Gaise". In der Oberstraße, die heute Mittelstraße heißt, trafen sie zusammen. Das war ein Geschnatter, das die etwa 400 Gänse veranstalteten. Sie zogen nun weiter bis an die Hute an der Diemel. Sie lag dort, wo sich heute der Segelflugplatz befindet. Bei dem Marsch hielten der Gänsehirt und seine Frau eine Fahne hoch, einen Stock, an dem ein rotes Tuch flatterte. Wenn sie an der Hute angekommen waren, konnte die Frau nach Hause zurückkehren, wo viele Pflichten auf sie warteten.
Zu Beginn der Hütesaison, wenn die Gösseln noch nicht so groß waren, blieb die Herde etwa 14 Tage lang an dem Graben hinter dem Dorf. Die Tiere mußten sich erst aneinander gewöhnen, aber das geschah schnell. Bald schon fanden sie bei der Rückkehr durchs Dorf ihren heimatlichen Stall. Trupp für Trupp verließen sie die Herde, um in ihren Stall zurückzukehren. Jahr für Jahr erfuhren der Gänsehirt und seine Frau die Wahrheit des Sprichwortes: "Wie man die Gänse gewöhnt, so gehen sie." Ein Sprichwort, das man auch häufig auf die Kindererziehung übertrug.
Im Spätsommer, nach der Getreideernte, wurde dann die Gänseherde über die Stoppelfelder getrieben.

Sarah, die Gans
Karl Ashauer erzählt von einer Gans, die 18 Jahre alt geworden ist. Sarah nannten sie das Tier, das Jahr für Jahr eine stolze Schar von Gösseln ausbrütete. Schlimm wurde es im Herbst, wenn eine Gans nach der anderen aus dem Stall zum Schlachten geholt und die Schar immer kleiner wurde. Dann schrie und krakeelte Sarah tagelang. Als Sarah 18 Jahre alt war, beschloß Familie Ashauer, die Gänse abzuschaffen. Der Straßenverkehr war zu groß geworden, die Gänsehaltung lohnte sich nicht mehr. "Ich habe aber Sarah nicht schlachten und essen können", erzählt Karl Ashauer. "Das hat dann ein Nachbar gern übernommen." Sarah war mit ihren 18 Jahren übrigens noch in den besten Jahren. Gänse können das stattliche Alter von 30 Jahren erreichen.
Wo blieben die vielen Wethener Gänse? Natürlich gab es zu Weihnachten Gänsebraten und auch an den Sonntagen hin und wieder. Teilweise wurden sie an Privatkunden verkauft, die jedes Jahr wieder gern Wethener Gänse abnahmen. "Ich habe jahrelang etwa 20 Gänse im Dorf für meinen Onkel zusammengekauft, der in Bochum eine Gastwirtschaft hatte", berichtet Adele Schürhoff.

Der Schweinehirt
Wenn die Gänse das Dorf längst verlassen hatten, kam der Schweinehirt mit seinem treuen Hund. Er blies ein bestimmtes Signal auf seinem Horn und zog auf dem gleichen Weg durchs Dorf wie der Gänsehirt. Auf der Oberstraße war ebenfalls der große Treffpunkt für ungefähr 100 Tiere. Die jungen Schweine wurden gekennzeichnet. In den ersten Tagen brachten sie die Kinder der Besitzer zur Herde und holten sie auch abends wieder ab, aber schon nach wenigen Tagen wußten sie, wo sie hingehören. Die Schweine wurden im Sommer ebenfalls zur Hute an die Diemel geführt, wo sich Gänshirt und Schweinehirt das Terrain aufteilten. Im Winter ging es, solange der Boden nicht gefroren war, in den Büllberg. Hier fanden die Schweine Bucheckern und Eicheln.
Ein Wethener Original war das "Meisterken". Er hütete viele Jahre lang mit großer Treue und Zuverlässigkeit die Schweine des Dorfes und bekleidete daneben das verantwortungvolle Amt eines Nachtwächters, das damals mit dem des Schweinehirten verbunden war. Aber mit dem "Meisterken" hatte man wirklich den Bock zum Gärtner gemacht. Er hatte, wie man so sagt, mehr Angst als Vaterlandsliebe und zog abends schlotternd vor Angst und stets begleitet von seinem treuen Hund Erdmann durch das dunkle Dorf. Oft mußte auch seine Frau mitgehen auf dieser gefahrenvollen Tour. Die Wethener Jungen, die genau wußten, was für ein Angsthase er war, spielten ihm manchen Streich.

Die Obsternte
In Wethen gab es früher noch viel mehr Obstbäume als heute. Sie standen auf den Wiesen und säumten die Feldwege und Straßen ein. "Was haben wir früher viel Obst geerntet", erzählt Adele Schürhoff. "Körbe um Körbe wurden nach Hause geschafft. Äpfel, Birnen und Zwetschgen." Bei Familie Ashauer wurde wie bei den meisten Familien des Dorfes noch bis 1935 im eigenen Backofen Brot gebacken. An jedem Backtag in der Obstzeit wurde gedörrt, nachdem das Brot aus dem Ofen genommen war. Meistens wurde ein Waschkorb voll Äpfel geschält. Das Dörrobst wurde trocken so zwischendurch gegessen und war lange Wochen hindurch aufgekocht ein willkommener Nachtisch. Mindestens einmal im Monat gab es bei Ashauers und auch bei anderen Familien im Dorf die sogenannte "Monatskost". Wenn auch sonst die Speisen der Jugendzeit meist in der Erinnerung verklärt werden, beim Gedanken an die "Monatskost" verziehen die Geschwister noch heute die Gesichter. Es handelt sich um gemischtes Dörrobst, das mit Kartoffeln durcheinander gekocht wurde. Das Gericht hatte einen süßsauren Geschmack. In der Pfanne ausgelassene Speckgrieben wurden dann über das Essen gegeben.
Damals war man sehr auf das Dörrobst angewiesen. Im Dorfladen gab es Erbsen, Graupen, Linsen und Bohnen zu kaufen, außerdem Zucker, Salz, Kaffee und einige Gewürze und daneben Dinge für die Landwirte, wie Peitschen. Mit Obst und Gemüse aber mußte man sich in Wethen wie überall auf dem Lande selbst versorgen. Und das Dörren von Obst war die einzige Möglichkeit, einen Vorrat zu schaffen, der das ganze Jahr lang hielt.

1. April 1945
Ein Tag ist der Schreckenstag im Gedächtnis vieler Wethener geblieben. Das ist der 1. April 1945. Am 31. März war ein Untersturmführer mit einer Gruppe von ganz jungen SS-Leuten, die noch in den letzten Kriegstagen meist von der Schulbank weg eingezogen worden waren, ins Dorf gekommen. Sie sollten die Stadt Warburg verteidigen. In Wethen wollten sie auskundschaften, wie weit die Amerikaner vorgerückt waren.
Am Morgen des 1. April trafen sie im Ort auf einen feindlichen Panzerspähwagen, in dem ein amerikanischer Offizier mit seinen Leuten saß. Der Untersturmführer schoß mit seiner Panzerfaust auf das Fahrzeug. Alle Insassen wurden getötet. Die Amerikaner zogen sich nach kurzem Gefecht zurück, stellten die Panzer in ungefähr einem Kilometer Entfernung um das Dorf herum auf und eröffneten das Feuer. Die 23jährige Klara Diedrich wurde tödlich getroffen, außerdem noch ein weiterer Zivilist und ein deutscher Soldat. Bei diesem Angriff wurden fünf Pferde, 15 Kühe und 12 Schafe getötet. Etwa 20 Häuser, Stallungen und Scheunen wurden zerstört. Die Amerikaner ließen mehrere Häuser räumen und durchsuchten alle Häuser nach deutschen Soldaten. Nach wenigen Tagen zogen sie in Richtung Ossendorf und Germete weiter und nahmen im Engelsbusch die SS-Leute gefangen. Acht Tage später durchsuchten die Amerikaner noch einmal den Ort nach deutschen Gefangenen, fanden aber niemanden.
Der Aufbau der zerstörten Gebäude bereitete sofort nach Kriegsende große Schwierigkeiten. Mit tatkräftiger Nachbarschaftshilfe wurde in den folgenden Jahren der Schaden behoben.

Die Jugend von früher
Die ältere Generation hat an der "Jugend von heute" allerhand auszusetzen. Karl Ashauer und seine Schwester meinen dazu: "Eigentlich war die Jugend früher viel mehr für 'dumme Streiche' zu haben als die jungen Leute heutzutage. Wenn die heute mal was anstellen, wird immer gleich die Polizei herbeigeholt." Das Dorf war früher bei Nacht nicht beleuchtet. Diese Tatsache und die genaue Kenntnis der einzelnen Dorfbewohner und ihrer Eigenschaften begünstigte natürlich allerlei nächtliche Aktionen. Jeder wußte, wo im Dorf ein Fest gefeiert wurde. Die jungen Leute, die nicht eingeladen waren, versuchten ebenfalls an dem Fest teilzunehmen. Sie wußten ja, wo in jedem Haus die Vorratskammer war. Wenn das Obst reif war, wurde es mit den Eigentumsverhältnissen auch nicht so genau genommen. Man wußte ja ebenfalls, wo die schönsten Gravensteiner Äpfel wuchsen.
Man wußte auch, wo sich der Abfluß befand, aus dem das Schmutzwaser aus der Küche ins Freie floß. Wenn man spät abends in den Abfluß mit Hundepfropfen hineinschoß, konnte man den Leuten schon einen tüchtigen Schrecken einjagen. Mußte ein furchtsamer Dorfbewohner noch abends durchs stockfinstere Dorf gehen, verbargen sich die Jungen gern hinter einem Holzhaufen und versetzten ihn in Angst und Schrecken.
Trotz der strengen Erziehung in Elternhaus und Schule versuchte auch früher die Jugend, ihre Kräfte zu messen und etwas "anzustellen". Die Alten dachten an ihre eigene Jugendzeit und zeigten in der Regel mehr Verständnis als ihre strengen Mienen vermuten ließen, die sie aus erzieherischen Gründen zur Schau trugen. Anderen Streiche zu spielen sorgte für Aufregung sowie Schadenfreude und Gesprächsstoff. Es gehörte zum dörflichen Gemeinschaftsleben wie das Salz in der Suppe."


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